1926. Tirol, noch rein agrarisch geprägt, bietet kaum Arbeitsplätze für vom Hof weichen müssende Kinder. Die Wirtschaftskrise erreicht noch nicht ihren Höhepunkt und Andreas Thaler wird Landwirtschaftsminister in Österreich. Hofnachfolger wird nur der erstgeborene Sohn, familiäre Spannungen und Preisverfall landwirtschaftlicher Produkte sind Realität. Thaler, selbst aus einer Tiroler Bauernfamilie stammend, hat eine Idee: eine Siedlung in Brasilien für die arbeitslosen tiroler Bauernkinder. Dreizehnlinden soll sie heißen.
Unumstritten ist das Vorhaben nicht: Die erforderlichen Geldmittel für den Land- und Maschinenerwerb sind inmitten der Wirtschaftskrise schwer aufzustellen. Hilfreich ist Thalers Beziehung zum Bundeskanzler Engelbert Dollfuß, dieser stellt ihm eigenmächtig eine halbe Million Schilling aus dem Bundesbudget zur Verfügung. Verbunden mit der Besiedelung ist auch ein kulturmissionarischer Anspruch: Dreizehnlinden soll die italienischen KolonistInnen zurückdrängen und bestehende deutschsprachige Siedlungsprojekte in Brasilien stärken. Mit der Gründung der „Österreichischen Auslandssiedlungsgesellschaft“ beginnt 1933 die Organisation; schon im Oktober erreicht die erste SiedlerInnengruppe, angeführt von Thaler, Brasilien. Der Traum von einer österreichischen Kolonie zerplatzt bei der Ankunft: Statt Wiesen finden die AuswandererInnen Urwald vor, der erst gerodet werden muss. Auch das Klima setzt ihnen zu und vom rein genossenschaftlichen Prinzip muss Thaler nach Protesten der SiedlerInnen abrücken. 1939 stirbt Andreas Thaler bei einem Hochwasser. Er erlebt nicht mehr, wie die NSDAP versucht, gegen den Widerstand der Kolonie Dreizehnlinden als Siedlungsgebiet für Sudetendeutsche zu nutzen. Der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verhindert das Vorhaben. Brasilien, ab 1942 auf Seiten der Alliierten in den Weltkrieg eintretend, ändert seine anfänglich siedlungsfreundliche Politik: Die Verwendung der deutschen Sprache wird verboten, die SiedlerInnen enteignet und Dreizehnlinden, wie alle anderen Einwanderungsdörfer, umbenannt.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wird das zuvor enteignete Land den SiedlerInnen zurückgegeben, auch der Zuzug von SiedlerInnen aus Österreich setzt wieder ein. Bis in die 1950er Jahre, als sich in Österreich die Wirtschaft erholt und in Tirol der Tourismus beginnt, gibt es Einwanderungswellen nach Treze Tílias, wie die Siedlung in portugiesischer Übersetzung nun heißt. Namensgeber des Dorfes waren keine dreizehn Lindenbäume, sondern ein Epos des deutschen Dichtes Friedrich Wilhelm Weber, zur Gründungszeit ein bekanntes Werk.
Schuhplattler und Caipirinha
Bis in die 1980er Jahre fristet Dreizehnlinden ein Schattendasein. Fernab gelegen von Großstädten ist eine wirtschaftliche Entwicklung kaum gegeben. Der Aufschwung setzt ein, als mit Unterstützung aus Österreich eine Molkerei gegründet wird, die zur zweitgrößten in Brasilien aufsteigt. Die Molkerei trägt den bezeichnenden Namen „Tirol“, auch sonst wird die kulturelle und nationale Herkunft hochgehalten: Die österreichische Fahne hängt gleichberechtigt neben der brasilianischen am Gemeindeamt. Der Kontakt mit Verwandten aus der alten Heimat ist gut, der Lebensstandard ist vergleichsweise hoch, dank kräftiger Subventionen der Tiroler Landesregierung.
Franz Kölbl, der mit einer österreichischen Trachtenmusikkapelle Dreizehnlinden besuchte, war über den hohen Stellenwert des Brauchtums erstaunt: „Die Blasmusikkapelle, die die ersten SiedlerInnen schon am Schiff nach Brasilien gründeten, besteht noch immer. Die Schuhplattlergruppe ist in ganz Brasilien bekannt.“ Die Holzschnitzer sind ein Begriff und die Volkstanzgruppe wird von vielen gerne eingeladen. Eine Woche im Jahr steht das Dorf Kopf: Wer kann, kommt zum „Tirolerfest“. Dreizehnlinden, mit seinen 6.000 EinwohnerInnen, profitiert vom Charme des Exotischen und vermarktet sich selbst als „O Tirol Brasileiro“. Gesprochen wird offiziell portugiesisch und doch können sehr viele Deutsch – mit kräftigem Tiroler Dialekt. „Ältere BewohnerInnen bezeichnen sich noch heute als BrasilianerInnen und ÖsterreicherInnen gleichzeitig“, sagt Kölbl. „Da die meisten selbst nie in Österreich waren, haben sie kitschige Bilder im Kopf und verwirklichen sie: In der Edelweißbar prangen Bergpanormafresken, vor denen doch mehr Caipirinha statt Bier getrunken wird.“ Und Dreizehnlinden hat nicht nur Tirolerhäuser, der Ort ist auch ein Remix der Kulturen.
Dreizehnlinden ist nicht die einzige Siedlung, die österreichische AuswandererInnen in Südamerika gründeten. Ein anderes Beispiel ist Pozuzo, schon 1857 von ÖsterreicherInnen in Peru gegründet. Das inmitten des Urwaldes gelegene Dorf wirbt heute mit „Abseits der Zivilisation, inspiriert vom einfachen Leben“ um TouristInnen – ein Slogan, der im vom Massentourismus erschlossenen Tirol nicht mehr funktioniert.