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„Wir haben ein Systemproblem“

Erleben wir derzeit eine Krise der Wirtschaft oder der Politik?
Es ist wohl beides. Sicherlich war in den frühen Phasen der Wirtschaftskrise ein Staatsversagen zu verzeichnen, sogar beim Platzen der Immobilienblase in den USA, aber es gab auch ein massives Marktversagen. Man muss davon ausgehen, dass wir in einer anderen Welt leben als im 20. Jahrhundert. Es ist nicht mehr die industrielle bzw. die postindustrielle Gesellschaft. Es ist das, was wir jetzt als Finanzmarktkapitalismus bezeichnen, das heißt, es ist ein neues Spiel im Gange. Es ist vor allem dadurch geprägt, dass wir einen Riesenberg von volatilem Kapital haben, das sich Anlagemöglichkeiten sucht und Instabilität erzeugt. Diesen Geist bekommen wir nicht wieder in die Flasche zurück. Daher sind auch die Spielregeln andere.

Die Spielregeln von denen Sie gesprochen haben, wurden von der Politik in den 90er Jahren gelockert. Hat man sich bei diesem Spiel mit dem Feuer die Finger verbrannt?
Das kann man so sagen. Es hat eine Entwicklung gegeben vom Keynesianismus, der in den 70ern vorherrschte, hin zu einer neoliberalen Konzeption der Wirtschaft. Da haben die Wissenschaftler, die Think-Tanks, die Banken und Consulting-Agenturen und die Politik mitgewirkt – keiner hat es besser gewusst. Das war ein Prozess der Freisetzung und der Befreiung von Regularien verschiedenster Art, und die dadurch eröffenten Möglichkeiten wurden auf kreative und zum Teil unanständige Art genutzt.

Dies führt dazu, dass sich die Mittelschicht ausdünnt und die Reichen immer reicher werden?
Ganz sicher. Wir haben einen starken Polarisierungsprozess bei Vermögen und Einkommen. In den USA lässt sich dies in den letzten 30 Jahren empirisch nachweisen, in den letzten 10 Jahren auch in Europa. Wir haben eine Auseinandersetzung, die den unteren Sozialschichten noch etwas von ihrer Substanz raubt, die die Mittelschichten teilweise absinken lässt, während die Oberschicht stabil bleibt, ja ganz oben sogar abhebt. Ganz oben gibt es die höchsten Zuwächse. Die Mittelschicht ist die große Zahlergruppe, hier wird ein großer Teil der Steuern eingehoben, während es nach oben hin gute Möglichkeiten zur Umgehung der Steuern gibt. Bei der Oberschicht sind ja vor allem jene ganz oben interessant, das oberste Prozent etwa, denn hier finden die Abhebeeffekte statt. Dieses eine Prozent verfügt über eine Dienstklasse juristisch und ökonomisch kompetenter Menschen, die dafür sorgen, dass wenig Steuern zu zahlen sind und das Vermögen möglichst profitabel, meistens im Ausland, angelegt wird.

Gegenmaßnahmen der Politik wie den ESM erreichen mittlerweile Dimensionen von 2 Billionen Euro. Ist die Politik wirklich noch Herr der Lage?
Vom Herr der Lage kann keine Rede sein. Die Politik ist ein mehr oder weniger kompetenter Krisenmanager, aber sie läuft den Problemen hinterher. Manchmal durchaus vernünftig, aber von einer klaren Steuerung und Richtungsbestimmung kann keineRede mehr sein. Tatsächlich haben wir zum ersten Mal seit 20 Jahren wieder ein Systemproblem. Wir haben nicht nur die Krise zu bewältigen, wir wissen auch letztlich nicht, wie wir die Krise bewältigen sollen. Das betrifft einerseits diesen großen Berg an Kapital, den man mit Maßnahmen wie der Transaktionssteuer einengen will, aber das ändert nichts an einer volatilen, das heißt permanent instabilen Ökonomie. Das europäische Problem mit der Auseinanderentwicklung der reichen und der ärmeren Länder wird auch nur durch Hinausschieben behandelt. Wir machen immer wieder Feuerwehraktionen, aber im Grunde wird die eigentliche Frage nicht angetastet: was mit Ländern wie Griechenland oder überhaupt mit den mediterranen Ländern geschehen soll. Es bleibt das Problem der zu niedrigen Produktivität und des zu hohen Lohnniveaus, Athen wird durch die getroffenen Maßnahmen nicht über Nacht zu einem Zentrum der Nanotechnologie werden. Wenn man auf dem Niveau von Olivenöl und Schafskäse operiert, wird man keine moderne funktionierende Wirtschaft zu Stande bekommen. Wir haben keine Perspektive für dieses Land, wie wir es in einem gemeinsamen Währungsverbund halten wollen.

Fällt der Euro, fällt Europa?
Das wüssten viele Leute gerne, ich weiß es auch nicht. Wahrscheinlich wird der Euro bleiben, das heißt aber nicht, dass nicht das ein oder andere Land ausscheidet und ein Kerneuropa erhalten bleibt. Aber wie die Entwicklung und die konzentrischen Kreise um dieses Europa aussehen werden, wissen wir noch nicht.

Sind Bewegungen die eine Antizinspolitik propagieren oder das gesamte Geldsystem reformieren wollen reine Hirngespinste oder haben diese eine reale Chance auf Umsetzung?
Ich glaube nicht, dass es zu einer Umsetzung solcher Ideen kommt. Die meisten der Ideen, die oft auch mit Verschwörungstheorien operieren, sind nicht wirklich brauchbar. Ein paar andere Ideen ganz gut, aber sie sind mit unserem aktuellen System nicht kompatibel. Hier kommen wir ohnehin zu einem weiteren Systemproblem: Langfristig bewegen wir uns in eine Wirtschaft hinein, die mit dem Wachstumspfad ein Problem hat. Wir wissen nicht, wie wir eine dynamische Wirtschaft haben können, die gleichzeitig eine nachhaltige Nicht-Wachstumswirtschaft ist.

Eine einfache Frage zum Abschluss: Wissen Sie wie Geld entsteht?
In soziologischer Hinsicht gibt es den Konsens darüber, dass irgendwelche Materialien als universelle Zahlungsmittel verwendet werden. Insofern stimmt es, dass Geld auf Vertrauen aufgebaut ist. Ob dies jetzt Muscheln, Zigaretten oder Münzen sind, ist für die Tauschfunktion egal. Das jetzige Geld ist fiktional und beruht – bis auf dem vernachlässigbaren Wert des bedruckten Papiers – rein auf der gegenseitigen Anerkennung und dem Vertrauen.

 

Zur Person: 
Manfred Prisching (62) studierte Rechtswissenschaften und Volkswirtschaftslehrte. Er war Vorstand am Institut für Soziologie und Leiter des Centrums für Sozialforschung an der Universität Graz. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen insbesondere Wirtschaft und Globalisierung.

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