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Der Blick zurück

16. Juni 1992. Der Tag, der mein Leben und das meiner Familie maßgeblich geprägt hat. Das war das Datum, an dem mein Vater zusammen mit meiner Mutter meine kleine Schwester, mich und meine Großmutter packte und wir uns mit Sack und Pack auf den Weg nach Deutschland in einem russischen Mercedes namens Aleco machten. Mit uns hatten wir bis auf Geld und die Klamotten, die wir am Leib trugen, gar nichts. Bijeljina, meine Geburtsstadt war von Soldaten verbarrikadiert. Es gab ein Ausreiseverbot.

Doch das hielt meinen mutigen Vater nicht davon ab, über einen Waldweg die Reise ins Ungewisse anzutreten. Doch an der deutschen Grenze angelangt, teilte man meinem Vater mit, dass die Kapazitäten überschritten worden wären und Deutschland nicht mehr bereit war, weitere Kriegsflüchtlinge aufzunehmen. Schwer entmutigt und hoffnungslos landeten wir in Salzburg. Sollte das das Ende sein? Ohne Haus und mit wenigen Habseligkeiten in einem fremden Land? Ohne Zukunftsperspektiven und mit keinem Brocken Deutsch oder Englisch, mit dem man sich verständigen konnte? (Meine Eltern konnten Französisch und Russisch. Auf Englisch oder Deutsch hatte keiner Wert gelegt im ehemaligen Jugoslawien.) Das Flüchlingslager Traiskirchen war zu unserem Verdruss überfüllt. Doch, wie der Zufall es so wollte, landeten wir im Hotel Winkler, ein saudi-arabischer Gönner hatte ein Teil des Hotels für Flüchtlinge gemietet. (Man munkelte, es war Bin-Laden…) Danach sollte es nach Schwarzenau gehen, allerdings waren meiner Großmutter der Stress und die Entwurzelung zu viel und just dann, als wir in Schwarzenau ankamen und vor der Kirche Station machten, wurde meine Großmutter ohnmächtig. Das Tragische dabei war, dass die GemeindebewohnerInnen dachten, sie hätte beim Anblick des Kreuzes das Bewusstsein verloren. Blasphemie. Gott bewahre, dass jemand mit einem fremden Glaubensbekenntnis Österreich betritt. (Meine Großmutter trug ein Kopftuch.)

Zu guter Letzt landeten wir doch im Flüchtlingslager Traiskirchen. Ich kann mich an die unzumutbaren Zustände nicht mehr erinnern, aber meine Eltern bekommen auch heute noch eine Gänsehaut, wenn sie mir vom „Horrorlager“ erzählen, wo man nicht wie ein Mensch behandelt wird, sondern wie Vieh. Letztendlich landeten wir im depressiven Niederösterreich, genauer gesagt in einem kleinen Dorf namens Thaya. Meine Volksschulzeit ist mir nur dunkel in Erinnerung. (Meine Mathematikkenntnisse waren damals schon nichtexistent.) Als einziges Kind in der Schule konnte ich kein Deutsch und demnach fiel es mir schwer, Anschluss zu finden. Doch nach ein paar Wochen Privatunterricht von meinem Klassenvorstand lernte ich ziemlich schnell Deutsch.

Mein Vater, von Beruf Jurist und ehemaliger Unternehmer, verdiente sich mit den üblichen GastarbeiterInnenberufen seine Groschen, um seine Familie über Wasser zu halten. Eine Möglichkeit, sich seine bosnische Ausbildung anerkennen zu lassen, gab es damals nicht. Auch nicht irgendwelche Kurse, um die Sprache zu erlernen. Ohne Sprache waren einem jegliche Zukunftsperspektiven verwehrt. Deshalb legte mein Vater auch so viel Wert auf eine ordentliche Ausbildung seiner Kinder. Nach ein paar Jahren zwecks Ausbildung und Jobchancen übersiedelten wir, zusammen mit dem neuen Familienzuwachs, meinem kleinen Bruder, in die nächste Stadt Waidhofen/Thaya, wo man sich eine gewisse Anonymität bewahren konnte. 1998 erhielten wir die österreichische Staatsbürgerschaft, als eine der ersten Ex-Flüchtlingsfamilien in Niederösterreich. Österreich ist meine Heimat. Das lässt sich nicht bestreiten, aber manchmal schwelge ich wehmütig in der Vergangenheit. „Was wäre, wenn es den Krieg nicht gegeben hätte?“ ‚You can‘t chose where you come from, but you can choose where to go.‘

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