Ein egozentrischer Einzelgänger, der nur selten Gefühle für seine Mitmenschen zeigt. Ein höchst rational und schnell denkendes Genie, das gerade deshalb oftmals mit einer Maschine verglichen wird. Kommunikation mit anderen Menschen ist nicht gerade sein Hobby – sind doch schließlich alles Idioten. Lieber schweigt er tagelang, sitzt in seiner Wohnung und spielt dort Geige, während er in den Tiefen seines „Mind Palace“ versinkt. Solche Eigenschaften beschreiben nicht unbedingt einen Menschen, den man zum besten Freund haben möchte. Nein, diese Eigenschaften beschreiben vielmehr einen „hochfunktionalen Soziopathen“. Aber warum lieben die sogenannten „Sherlockians“ dann ihren Sherlock Holmes so sehr? Warum erlebt der von Sir Arthur Conan Doyle bereits im späten 19. Jh. erschaffene Privatdetektiv gerade jetzt solch ein Revival?
Nikotinpf laster statt Pfeife und Romance statt Bromance?
Ende 2009 kam der erste Teil von Guy Ritchies „Sherlock Holmes“ in die Kinos. Mit Robert Downey Jr. als Sherlock Holmes und Jude Law als Dr. John Watson ließ der US-Action- Thriller so manchen Fan des Originals kalt, da abgesehen von den Namen der Charaktere und dem viktorianischen, düsteren London nicht viel an Doyles Originalgeschichten erinnert.
Kurze Zeit später setzten Steven Moffat und Mark Gatiss (u.a. Drehbuchautoren für „Doctor Who“) ihre Idee einer modernen Sherlock Holmes- Adaption in die Tat um. Das Ergebnis: Die mittlerweile weltweit beliebte BBC-Serie „Sherlock“, in welcher der Consulting Detective im heutigen London ermittelt. Die bekennenden Doyle-Fans Moffat und Gatiss haben es geschafft, den Kultdetektiv originalgetreu und gleichzeitig authentisch in das moderne Zeitalter zu versetzten. Wie? Mit britischem Witz und Charme, der nicht zuletzt den Hauptdarstellern Benedict Cumberbatch (Holmes) und Martin Freeman (Watson) zu verdanken ist. Statt Drogen und Pfeife bevorzugt der moderne Sherlock Nikotinpflaster und Kaffee. Er schreibt keine Telegramme, sondern verwendet sein iPhone. Es kann auch mal passieren, dass er aus Langeweile mit seiner Waffe an die Wände von 221B Baker Street ballert. Und John? John schreibt die bearbeiteten Fälle in seinem Blog nieder und muss immer wieder betonen, dass er nicht Sherlocks Date ist.
Wer nicht über ein Jahr auf die dritte Staffel von „Sherlock“ warten kann, ohne ungeduldig auf seine vier Wände einzuschießen, kann sich ab dem 10. Januar die US-Serie „Elementary“ auf Sat1 ansehen. Das Resultat dieser Adaption ist eine weibliche Joan Watson (Lucy Liu), die dem tätowierten Ex-Junkie Sherlock Holmes (Jonny Lee Miller) beim Drogenentzug und dem Lösen von Fällen in New York City unterstützt (Warum haben sie die Serie eigentlich nicht „CSI: Sherlock“ genannt?).
Ein Soziopath als Held des 21. Jahrhunderts?
Doch worin begründet sich dieses plötzliche Revival? Möglicherweise lässt sich Sherlocks Beliebtheit damit erklären, dass er ein Antiheld ist. Er ist kein makelloser, muskelbepackter Schönling, dem reihenweise Frauen verfallen. Ganz im Gegenteil. Der Privatdetektiv mit dem markanten Gesicht widmet sein Interesse viel lieber dem Lösen von Kriminalfällen für die Polizei. Hat er einmal keine Fälle, die ihn auf Trab halten, so wird er unruhig, verbarrikadiert sich in seiner Wohnung und verfällt dem Konsum von Suchtmitteln.
Der an anderen Menschen eher desinteressierte Egozentriker passt eigentlich ziemlich gut in unsere Zeit. Eine Zeit, in der immer mehr Menschen isoliert von der realen Außenwelt in den Fernen des Internets oder der Computerspiele versinken. Sherlock Holmes ist – unabhängig von der jeweiligen Adaption – immer menschlich. Er hat wie jeder von uns seine Schwächen, zögert aber nicht, diese auch zu zeigen. Er traut sich im Gegensatz zu den meisten Leuten da draußen seinem Gegenüber ins Gesicht zu sagen, dass er/sie ein Vollidiot ist. Er sagt, was er denkt und ist trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – irgendwie ein ziemlich cooler Kerl.