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Lesen lernen

Kleine Zeitung. Ich sehe die damalige Wohnung, den Vater, die Mutter und Amanda Klachl. Mich sehe ich am Küchentisch, den Kopf nahe über das Papier gebeugt. Ich behaupte zu lesen, imitiere die klare Stimme der Mutter, der Fernsehsprecherinnen, überdeutlich und nach der Schrift. Am Wochenende geht´s zur Großmutter hinaus aufs Land. Hierher schafft es die Kleine Zeitung nicht. Hier erscheinen das Neue Land und das Sonntagsblatt. Trotzdem erstreckt sich vor mir eine endlose Lesewelt. Und sie ist bedeutsamer, greifbarer, wirklicher. Vor allem aber ist sie keine Geheimwissenschaft. Auf weitläufi gen Wanderungen zeigt mir der Großvater, was in der Tier- und Pfl anzenwelt los ist. Ein Fuchsbau, ein Spechtloch, ein Ameisenhügel. Die Bäume sind Freunde und gemächliche Nacherzähler. Die Saat ist aufgegangen. Der Fuchs hat die Hendln geholt. Das Unkraut muss gerupft werden, sogar die Steine erzählen. Die Häuser sind müde und morsch und verbergen Familiengeschichten und Krankheiten, Erinnerungen des Großvaters.

Am Jägerhorst sitzt er und erzählt, wie die Welt funktioniert

Im Schnee sehen wir Spuren von Hasen und Rehen. Das Fährtenlesen fasziniert mich. Im frühen Lesealter besitze ich ein Büchlein, das die heimische Spurensuche erleichtert und das ich bei mir trage, wenn ich alleine durch die Wälder streiche. Ach, wie war das Lesen unmittelbar! Es kam direkt zu mir, unverfälscht, unverdünnt. Es roch, es war heiß oder kalt, feucht oder trocken, es tat weh oder wohl. Im Kindergarten liest man Die kleine Raupe Nimmersatt. Schon die Bilder und Farben sind satt und prall und wirken übersteuert. Alles von Hand Gezeichnete zieht mich an. Ich beobachte die unterschiedlichen Bildwelten, erkenne früh das Konzept des Malstils, versuche mir möglichst viele einzuprägen, immer mit dem Vorsatz, irgendwann alle zu kennen.

Dieser Wille zur Vollständigkeit, zum absoluten Verstehen und Erkennen der Welt, zum Katalogisieren prägen mich. Die kindliche Neugierde ist ein Versuch, die Welt in ihrer Gesamtheit begreifen zu lernen, mir untertan zu machen. Es führt kein Weg vorbei an der Schrift, der Wissenschaft, der Kunst. Und die Reise, muss ich später zerknirscht zur Kenntnis nehmen, scheint kein Ende zu nehmen.

Die ersten Buchstaben treten in mein Leben

Erst M, dann I, dann A. Ungebremst stürze ich in die Schullaufbahn. Im ersten Schuljahr komme ich meinem Ziel der Bewältigung der Welt näher als jemals danach. Alles ist in Bewegung, andere Kinder, viele bunte Farben, Hefte, Bücher. Dem Forschergeist der Kinderjahre gefallen Abenteuerromane. Unzählige Enid Blytons, Thomas Brezinas, Die drei Fragezeichen und TKKGs gehen bei uns ein und aus. Mutter ist bei Donauland und mit dem Kugelschreiber mache ich jeden Monat gut sichtbare Kreise um interessante Bücher. Das Buch, das Mutter unter allen auswählt, enttäuscht oft. Es erreicht meine Vorstellungen bei weitem nicht. Mir fehlt ein Buchempfehler, ein Drogendealer. Die erste Leseliste in der Volksschule entwickelt sich zum klasseninternen Schnelllesewettbewerb. Egal, wie viel Mühe ich mir gebe, ich lese einfach zu langsam. Das ist mir erhalten geblieben. Mir steht diese Vorlesestimme im Kopf im Weg, denn sie ist eigenwillig. Sie atmet und macht Pausen wie sie es will. Setzt Beistriche oder geht vielleicht auch aufs Klo oder entschweift gedanklich ganz anderswo hin. Nun ist es nicht mehr allein die Stimme der Mutter. Jedes Buch erhält seine eigene fiktive Vorlesestimme. Oder die Stimme aus dem Film drängt sich auf. Brennerromane lesen sich mir in der Stimme Josef Haders vor. Das geht sicherlich allen so.

Als Teenager verliere ich den Spaß an der realen Welt. Ich mag nicht mehr die Spuren der Natur lesen. Die Spaziergänge mit dem Großvater sind mir eine Qual geworden. Am Bauernhof der Großeltern verbringe ich die großen Schulferien so wie früher, aber es erfreut mich kaum noch. Das Fernsehen nimmt mich ganz in Anspruch. Das Gerät ist das Fenster in eine Welt, in die ich eigentlich gehöre! Eine volle, bunte, laute Welt in der ständig etwas passiert und sich ein Höhepunkt an den anderen reiht. Die großen Entdeckungen, die mich nur wenige Jahre zuvor erfreuten, haben ihren Reiz verloren und liegen nun unbeachtet und lahm dar nieder. Ich wechsle in der dunklen Stube zwischen ORF 1 und 2 und wenn beides nichts mehr hergibt, dann lese ich. Der Sommer ist lang und der ORF kann erbarmungslos sein. Ich lese viel, aber ich lese aus Langeweile. Ich bin zu einem so faden Leben verdonnert worden, dass mir ja gar nichts anderes übrig bleibt! Wenn es gut läuft, verschwimmen die Realitäten aus Buch und Bauernhof und ein innerstes Gefühl begleitet mich und flüstert mir Dinge ein. Es verleiht meinem Leben einen Rahmen und einen Sinn. Vor der Pubertät schaffen das Die unendliche Geschichte, Karlsson vom Dach, Ronja Räubertochter, Konrad aus der Konservendose, Der 35. Mai.

Ihnen gegenüber steht in der Pubertät so was wie „Jugendbücher“, die mir als Jugendlicher immer irgendwie peinlich sind. Ihr Plauderton ist besserwisserisch. Das weiß ich doch längst! Ich bin doch kein Baby mehr! Immer droht im Dunkeln eine Gefahr, vor der man gewarnt werden muss. Dabei fi nden wir Gefahr doch toll! Mit gemischten Gefühlen lesen meine Freundinnen und ich Wir Kinder vom Bahnhof Zoo. Da sind wir 13, vielleicht 14. Wenig später (was sind denn heute drei, vier Jahre?) geht es mit Hesse los, Jelinek, Bernhard, Schwab. Stürmer und Dränger. Sie sind echt und brachial, spucken Hass und rotzen Zynismus auf eine schwitzende und geschundene Welt. Ihre Stimme ist die Kurt Cobains und dröhnt aus dem Walkman. Wir schreiben wahrscheinlich das Jahr 1998. Die Eltern drängen mir das erste Handy auf. Meine erste Emailadresse habe ich zwei Jahre später.

In Liebe und Dankbarkeit für J.W. (1950-2012)

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