Allgemein

Was wir den Toten schulden

1937 schrieb Max Horkheimer an Walter Benjamin „Die Feststellung der Unabgeschlossenheit ist idealistisch, wenn die Abgeschlossenheit nicht in ihr aufgenommen ist. Das vergangene Unrecht ist geschehen und abgeschlossen. Die Erschlagenen sind wirklich erschlagen.“ Warum beschäftigen wir uns dann überhaupt mit der Vergangenheit?

Horkheimer hat recht, die Vergangenheit ist insofern abgeschlossen, als dass wir sie nicht ungeschehen machen können. Aber sie ist in einem zweifachen Sinn nicht notwendig abgeschlossen. Erstens können wir uns auf die verstorbenen Opfer beziehen. Wir können das Unrecht, das ihnen widerfahren ist erinnern und in unser Gedenken aufnehmen. Das schafft eine Beziehung zwischen uns heute Lebenden und den verstorbenen Opfern. Solches Gedenken ist, meine ich, den Verstorbenen geschuldet.

Wie kann Toten etwas geschuldet sein?

Menschen sind zukunftsorientiert, sie verfolgen Projekte, die sich auf die Zukunft beziehen. Kulturelles und politisches, auch religiös motiviertes Engagement, aber auch wissenschaftliche Forschung können Beispiele für zukunftsorientierte Projekte sein, an denen wir uns beteiligen. Wenn wir annähmen z.B., dass zukünftig niemand mehr wissenschaftlich forscht, verlöre die Praxis einen Teil ihres Sinns. Als Wissenschaftler müssen wir uns nicht nur mit den Forschungsergebnissen früherer Wissenschaftler auseinandersetzen, sondern unsere Tätigkeit beruht z.T. darauf, dass andere dies zukünftig weiterhin tun werden. Zukunftsorientierung also durch Teilhabe an transgenerationellen Projekten, die zudem häufig vornehmlich zukünftig Lebenden nutzen sollen. Und so gut wie allen Menschen ist nicht gleichgültig, wie andere über sie denken. Auch dann nicht, wenn sie verstorben sein werden. Weitgehend geteilt ist das Interesse an einer angemessenen und fairen posthumen Reputation.

Daraus folgt, dass man den Toten etwas schuldet?

Dazu muss man annehmen, dass es für Menschen wichtig ist, sich so auf die Zukunft zu beziehen, und dass es eine schützenswerte Praxis ist, dass Menschen sich auf diese Weise auf die Zukunft beziehen können. Nun haben nicht alle Opfer von Unrecht solche zukunftsorientierten Projekte verfolgt, aber auch sie teilten das Interesse an einer angemessenen und fairen posthumen Erinnerung an sie. Wenn heute Lebende sie als Opfer von Unrecht gedenken, schützen sie die Reputation dieser Menschen. Neues schlimmes Unrecht wäre, würde nicht anerkannt, dass sie Opfer von Unrecht waren. Der Opfer zu gedenken dient der Anerkennung des an ihnen verübten Unrechts und der Vermeidung der Fortsetzung des Unrechts an ihnen. Die Vergangenheit ist aber auch nicht abgeschlossen, wenn wir angesichts der Opfer von Unrecht fordern: Never again! Jedenfalls ist es für viele ein wichtiges Motiv des öffentlichen Gedenkens. Man tritt dafür ein, dass sich die Verhältnisse ändern, dass es nicht mehr möglich sein wird, dass Menschen solches Unrecht
erleiden – auch dies ein zukunftsorientiertes Projekt, und auch eines des skeptischen Horkheimers.

Wenn man über die Aufarbeitung der Vergangenheit spricht, meint man oft nicht nur die Opfer sondern auch deren Hinterbliebene und Nachfahren. Können diese auch Ansprüche geltend machen oder gehen diese nicht über Erinnern und Gedenken hinaus?

Sie können Ansprüche auf Kompensation und Restitution von Eigentum geltend machen. Das ist weithin moralisch und rechtlich anerkannt. Denn die Konsequenzen des Unrechts dauern fort. Sie treffen nicht nur die direkten Opfer, sondern häufig auch die später Lebenden. Man denke an die Situation der Nachfahren der Sklaven etwa in den USA. Den Anspruch auf Kompensation in seiner Höhe zu bestimmen ist schwierig, auch weil die Situation der indirekten Opfer ja nicht alleine darauf zurückführen ist, dass ihren Vorfahren Unrecht widerfahren ist. Kausal relevant für ihre Situation sind viele Faktoren, und für die Bewertung ist besonders wichtig, wie die Nachfahren der Opfer selbst mit ihrer Situation umgegangen sind.

Wenn die Nachfahren diese Ansprüche haben, wer hat dann die Pflicht, ihnen Genüge zu tun?

Wir haben da mehrere Probleme. Die Täter können oft nicht identifiziert werden und häufig leben sie nicht mehr. Dann stehen sich Nachfahren von Tätern und Opfern gegenüber. Die Nachfahren der Täter sind aber im üblichen Sinn nicht moralisch für das verantwortlich, was ihre Vorfahren getan haben, da sie es nicht beeinflussen konnten. Wenn man also von der Verantwortung der Nachfahren der Täter sprechen möchte, muss man das in einem anderen Sinn tun. Ein Vorschlag ist, davon auszugehen, dass die Täter und ihre Nachfahren einer Gruppe angehören. Und wenn die Täter im Namen der Gruppe gehandelt haben, dann ist die Gruppe, und damit mittelbar ihre heutigen Mitglieder, verantwortlich dafür, Kompensation zu leisten. Häufig haben wir es bei schlimmen Menschenrechtsverbrechen ja nicht mit Einzeltätern zu tun, sondern mit sogenannten systemischen Verbrechen, an denen viele beteiligt sind und die von staatlichen Institutionen oder quasi-staatlichen Einrichtungen wenn nicht angeordnet, so doch ermöglicht, erlaubt oder gefördert wurden. Da scheint nahe zu liegen, dass nicht allein die Täter verantwortlich sind für das Unrecht, sondern die Gruppe. Wenn wir eine Kontinuität dieser Gruppe annehmen, ist es plausibel, dass die Gruppe für die Konsequenzen des Unrechts, das in ihrem Namen verübt wurde, haften soll. Es gibt für die Nachfahren aber auch einen anderen Grund, sich auf das Unrecht ihrer Vorfahren zu beziehen. Aus einer existentiellen Verantwortung dafür, wer sie sind als Mitglieder von Gruppen, denen ihr Selbstverständnis wichtig ist. Für viele Menschen meiner Generation – ich bin Jahrgang 1964 – gilt, dass die Großeltern zu den Tätern im Nationalsozialismus gehört haben. Eine Identifikation mit der Familie, die ja wohl die Großeltern einschließt, ist nur möglich, wenn man sich sowohl mit den positiven als auch den negativen Seiten der Familiengeschichte auseinandersetzt und auf diese Weise lernt, verantwortlich mit sich, seiner Herkunft und Sozialisation umzugehen.

In Österreich wird nicht selten die Argumentation „Wir haben uns jetzt lange genug damit beschäftigt, irgendwann muss einmal Schluss sein“ vorgebracht. Kann man so einen Schlussstrich ziehen?

Bei den Haftungspflichten hängt es davon ab, inwiefern Kompensationsforderungen der Opfer oder ihrer Nachfahren weiterhin gelten. Wenn den Haftungspflichten nicht (vollständig) entsprochen wurde, wurde dadurch allerdings neues Unrecht begangen. Leider müssen wir feststellen, dass dies häufig der Fall ist. Dann ist nicht anzunehmen, dass schon bald keine Haftungspflichten aufgrund des historischen Unrechts bestehen,, selbst wenn der Umfang und die Geltung solcher Pflichten generell mit der Zeit abnimmt. Den verstorbenen Opfern schulden wir, so hatte ich gesagt, dass wir sie als Opfer von Unrecht anerkennen – eine ihren Tod überlebende Pflicht heute Lebender ihnen gegenüber. Da ist nicht klar, wann diese Pflicht nicht mehr gilt. Womöglich wenn Menschen, die heute leben, sich nicht mehr in einer Weise auf die Opfer von Unrecht beziehen können, die aus deren Sicht für ihre posthume Reputation hätte relevant sein können, und für die heute Lebenden für ihr Selbstverständnis. Haben sich die Lebensbedingungen vollständig geändert – politisch, kulturell und technologisch –, mag das der Fall sein. Dann werden diese Opfer von Unrecht vergessen sein. Aber die Idee, einen Schlussstrich ziehen zu können, beruht glaub ich auf anderen Annahmen, nicht auf solchen Überlegungen, und ist, nehme ich an, häufig falsch.

 

Zur Person:

Lukas Meyer, geboren 1964, ist verheiratet und hat zwei Töchter. Er studierte Philosophie, Politikwissenschaft, Geschichte und Völkerrecht unter anderem in Tübingen und Yale. Masterabschluss in Philosophie an der Washington University in St. Louis 1987, 1990 Diplom in Politikwissenschaft an der FU Berlin, 1996 Promotion an der University of Oxford. Forschungsaufenthalte u.a. an der Harvard University und der Columbia University School of Law. 2003 Habilitation zum Thema „Historische Gerechtigkeit“ an der Universität Bremen. Seit 2009 Universitätsprofessor für Praktische Philosophie an der Uni Graz, außerdem Leiter des Instituts für Philosophie und des Zentrums für Kulturwissenschaften sowie Vizedekan der GeWi-Fakultät. Seine Forschung beschäftigt sich mit Fragen zu „Gerechtigkeit und Verantwortung in Raum und Zeit“.

WEITERLESEN :
Lukas H. Meyer:
Historische Gerechtigkeit. Möglichkeit und Anspruch www.uni-graz.at/lukas.meyer/texte/historischegerechtigkeit.pdf

Back To Top