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Eine Wahl, die die Welt veränderte

„Lock Her Up“, „Lock Her Up“ ruft eine aufgebrachte Menge unentwegt. Es ist ein Schlachtruf, gebrüllt aus tausenden Kehlen. Die Rufe in der Quicher Loans Arena von Cleveland im Bundesstaat Ohio, dort wo normalerweise LeBron James auf Punktejagd geht, gelten an diesem warmen Julitag einer Frau. Hillary Clinton. Sie ist es, die eingesperrt werden soll.

Autor: Bernhard Schindler

„Lock Her Up ist der Kampfschrei auf der Republican National Convention, der Krönungsmesse von Donald J. Trump zum republikanischen Präsidentschaftskandidaten. Aber es ist noch mehr als ein Urschrei. Es ist ein Ruf des Postfaktischen, der in einer Welt der Verschwörungen fußt: Clinton, die Betrügerin; Clinton, die Verräterin; Clinton, die Mörderin. Alles Motive aus Szenen der Verschwörungstheorien, alle jahrelang kultiviert, keines mit stichhaltigen Beweisen unterfüttert. Was bleibt, ist das Gefühl, dass etwas mit dieser Frau nicht stimmt.

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6000 Kilometer weiter östlich, gut einen Monat vor den Ereignissen in Cleveland, fährt ein roter Bus durch die britische Hauptstadt London. Dieser Bus transportiert eine der zentralen Kampagnenbotschaften der sogenannten Brexiters, der Befürworter_innen des britischen Austritts aus der Europäischen Union: „We send the EU 350 million pounds a week! Let’s fund our NHS (Nationaler Gesundheitsdienst, Anm.) instead.“ Eine Forderung, die auf der Angst vor einer finanziellen Unterversorgung des Gesundheitssystems und einer kreativen Zahlinterpretation (350 Millionen Pfund ergeben sich aus der Summe aller Aufwendungen Großbritanniens für die EU über die gesamte Zeit der britischen Mitgliedschaft ohne die finanziellen Rückflüsse aus Brüssel). Die postfaktische Pointe folgte am 24. Juni, dem Tag nach dem Brexit Referendum, als Nigel Farrage als oberster Exponent des Vote Leave Lagers erklärte, dass es die 350 Millionen Pfund für das Gesundheitssystem trotz Brexit nicht geben werde. Diese Forderung sei ein Fehler gewesen.

Zwei Episoden, die ein Schlaglicht darauf werfen, wieso die Wortkreation Post-Faktisch im November 2016 zum Wort des Jahres gewählt wurde. Die Oxford Dictionaries, die diese Wahl durchführen, erklären das Wort wie folgt: „Das Adjektiv beschreibt Umstände, in denen die öffentliche Meinung weniger durch objektive Tatsachen als durch das Hervorrufen von Gefühlen und persönlichen Überzeugungen beeinflusst wird.“ Oder anders gesagt: Was man fühlt, ist Realität.

Dabei findet sich das Wort „postfaktisch“ schon länger im medialen Diskurs. Schon 2004 wurde sie verwendet, um Collin Powells Massenvernichtungswaffen-Lüge zur Rechtfertigung der Irak Invasion zu beschreiben. Aber erst die hochkomplexe, moderne Welt des Jahres 2016 in Kombination mit den Möglichkeiten des Internets machten den Begriff zu jenem umfassenden Trendwort, das es heute ist.

Der britische TV-Satiriker John Oliver analysierte die Umwandlung von Gefühlen in Fakten anlässlich der Republikanischen Convention in Cleveland treffend: „Candidates can create feelings in people and what (Newt) Gingrich (republikanischer Politiker und Trump Vertrauter, Anm.) is saying is that feelings are as valid as facts so then by the transitive property candidates can create facts which is terrifying because that means someone like Donald Trump can essentially create his own reality and that is the closest thing to an actual magic spell“. Was im Frühjahr 2016 noch Satire war, ist spätestens mit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten Realität. Dessen Erfolg lag auch darin begründet, dass er für seine Anhänger ebendiese eigenen Realitäten des Postfaktischen schaffen konnte. Eine Realität, in der Fakten nicht mehr sind als „Liberal Biased”, liberal geprägt, wie es mit Stephen Colbert ein anderer Late-Night Host formulierte.

Die erfolgreichsten Tools von Trump und seinen populistischen Freunden diesseits des Atlantiks für das Kreieren solcher Realitäten sind die sozialen Medien und das Internet allgemein. Die schiere Masse an Fakten und Informationen in Kombination mit individuellen Echosystemen, in denen viele von uns leben, machen es immer schwieriger, Fakten von Emotionen zu differenzieren. Die Trennung von Meinung und Artikel fällt vielen immer schwerer. Dazu kommt noch eine Unkenntnis im Bereich der Medienbildung und eine oftmals falsch verstandene Kritikfähigkeit, die es vielen Menschen erschwert, bestimmte Informationen im Internet zu bewerten und zu gewichten. Zumal viele (Falsch-) Informationen in sozialen Netzwerken oft gut und einfach aufbereitet sind oder in anekdotischer Form verpackt auftauchen, die hervorragend auf einer emotionalen Ebene funktionieren. Diese Geschichten verinnerlichen und merken sich User_innen auch viel eher als Fakten, die oft kalt, sperrig und widersprüchlich daherkommen, zumal sie auch dem eigenen Weltbild massiv widersprechen können.

Aber wie kann das überhaupt sein? Gibt es nicht nach wie vor unumstößlichen Fakten? Es gibt sie, zumindest in Teilbereichen. Universitäten und die Wissenschaft produzieren und veröffentlichen ständig neue Fakten und Erkenntnisse. Doch wie diese Fakten in die öffentliche Debatte gelangen, wie sie in der Bevölkerung angenommen und rezipiert werden, ist eine andere Sache.

Gefühlte Wahrheiten

So ging das britische Research Center Ipsos Mori Institut dieser Frage nach und veröffentlichte im Frühjahr 2016 eine Studie unter dem Titel „Perils of Perception“, die sich mit der Wahrnehmung bestimmter sozialer Realitäten in der Bevölkerung auseinandersetzte. Beispielsweise beim Thema Migration: Briten denken, dass 15 Prozent der totalen Bevölkerung Großbritanniens im EU-Ausland geboren wurden. Tatsächlich sind es lediglich 5 Prozent. Dasselbe Phänomen lässt sich auch in den Vereinigten Staaten von Amerika beobachten: Hier denken die Menschen, dass ein Drittel der Bevölkerung Immigrant_innen sind, obwohl es nur 14 Prozent sind. Diese Annahmen über sein Umfeld bzw. die Gesellschaft in der man lebt, entstehen aus verschiedenen Gründen. Beispielsweise ein falsches oder gar kein Verständnis von Zahlen und/oder mathematischen Zusammenhängen. Oder auch das psychologische Konzept der „Emotional Innumeracy“, das besagt, dass man bei der Beantwortung einer Frage bezüglich der Realität zwischen zwei Zielen unterscheidet: „Accuracy“-Ziele, die uns nach der richtigen Antwort suchen lassen und „Directional“-Ziele, die unsere Sorgen oder Bedenken unterbewusst mittransportieren. Und diese Sorgen prägen dann die Antwort mit.

Aber unabhängig von den Gründen dieses Verhaltens nutzen Politiker wie Farrage und Trump dieses Missverständnis von sozialen Zusammenhängen als Basis ihrer postfaktischen Botschaften. Oder weniger freundlich formuliert: Sie lügen. Denn schließlich sind sowohl die von Verschwörungstheorien befeuerten postfaktischen „Lock-Her-Up“ Rufe als auch die bessere Finanzierung von Krankenhäusern am Tag nach der Wahl passé. Sie sind vielmehr als das zu benennen, was sie sind: Propaganda.

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