In Graz kursiert seit jeher die Erzählung von der „bösen und guten Seite der Mur“. Doch was ist dran an dieser urbanen Legende, die bis heute in den Köpfen der Menschen steckt? Über eine Stadt, die mit ihrem eigenen, uralten Vorurteil endlich aufräumen will und dieses gleichzeitig unaufhörlich selbst bedient.
„Im Allgemeinen bietet Grätz die höchst interessante Eigenheit dar, dass sich hier gleichsam zwei Städte, nur durch den Fluss geschieden darstellen, die in der Bauart, Anlage und auch im geselligen Leben eine durchaus verschiedene Physiognomie zeigen, und deren Bevölkerung nicht leicht von einer Seite des Stromes auf die andere übersiedelt.“
Das oben aufgeführte Zitat stammt vom österreichischen Staatswissenschaftler und Politiker Gustav Schreiner aus seiner im Jahr 1843 verfassten Arbeit über die Landeskunde der Stadt Graz. Wenn man von dem Publikationsjahr und der etwas sonderbaren Wortwahl, die sich unter anderem am veralteten Städtenamen „Grätz“ zeigt, einmal absieht, könnte man meinen, man habe es mit einem Dokument aus der heutigen Zeit zu tun. Man stelle sich vor, wie Studierende der Karl-Franzens-Universität das erste Mal den Boden der Stadt am Hauptbahnhof betreten, zu Fuß die Annenstraße herunterlaufen, am Kunsthaus vorbei über die Erzherzog-Johann-Brücke das östliche Mur-Ufer erreichen, die Sporgasse hinaufschlendern und schließlich in Geidorf landen. Auf ihrem Weg befragen sie die einheimischen Passanten, was es denn so in Graz zu sehen gäbe, wo man gut essen und trinken gehen könne und wo es sich am besten wohnen ließe. Am Ende ihres ersten Tages in Graz verarbeiten sie ihre Eindrücke von der Stadt in einer Nachricht an ihre Freunde. Es würde nicht überraschen, wenn sie in der äußeren Form zwar etwas abgeändert, aber inhaltlich ganz ähnlich aussähe wie die Bestandsaufnahme des Autors Gustav Schreiner 175 Jahre zuvor.
Warum ist das so? Weil es im Grazer Volksmund eine jahrhundertealte Erzählung gibt, die die Stadt seit jeher in zwei Hälften teilt. Gut und Böse. Gewinner und Verlierer. Links der Mur die Bourgeoisie, die aus ihren prachtvollen Gründerzeitvillen in Geidorf, St. Leonhard und dem Herz-Jesu-Viertel über die Geschicke der Stadt bestimmt. Gegenüber, rechts der Mur, das Proletariat, das dicht gedrängt und in ständiger Unsicherheit und Überfremdung in den Arbeiterbezirken Gries, Lend und dem Annenviertel sein trostloses Dasein fristet.
Neue Visionen in leeren Räumen
Es kommt auf die vielen verschiedenen Blickwinkel an, aus denen sie erzählt oder auch nicht erzählt wird, um eine urbane Legende, wie jene in Graz, zu verstehen. In der Raumbasis, die sich in der Volksgartenstraße 4-6 im Lend befindet, hat man die Möglichkeit, einen völlig neuen Blickwinkel auf die ewige Geschichte von der guten und bösen Seite der Mur zu erlangen. Jedoch werden hier keine uralten Sagen zum Leben erweckt, sondern unbenutzte Räume, verlassene Gebäude und verfallene Geschäftslokale. Seit Mitte 2016 arbeitet ein kleines Team um Raumbasis-Gründerin und Architektin Anna Resch daran, die zahlreichen Leerstände in den Bezirken Innere Stadt, Lend und Gries ausfindig und wieder nutzbar zu machen. Das erste Mal sind ihr die vielen Lücken und unbenutzten Objekte im Stadtgefüge während einer Führung im Lend vor sieben Jahren aufgefallen. Gemeinsam mit einer Studienkollegin fing sie an die Geschichte der unbewohnten Gebäude im Stadtarchiv zu recherchieren und sie im Rahmen ihrer Diplomarbeit an der TU Graz nach und nach zu katalogisieren. Heraus gekommen ist das Lendlabor, wie die beiden damaligen Studentinnen den 1,7 km2 umfassenden Beobachtungsraum im Bezirk Lend genannt haben. Im Jahr 2012 wurden hier allein 43 leerstehende Gebäude festgestellt. Folglich überlegten sie sich, wie die bestehenden Raumressourcen „recycelt“ werden könnten, anstatt Grünflächen am Stadtrand unnötig zu verbauen und die Stadtplanung der Willkür von Investoren zu überlassen. Die Stadt reagierte auf die Ideen der Architektinnen und finanzierte nach Gründung der Raumbasis das Projekt „Zwischenraum-Nutzungsmanagement“. Resch und ihr Team vernetzen seitdem Eigentümer_innen mit jungen Start-Ups, sozialen Projekten und Kunst-und Kulturschaffenden, die für wenig Miete den Leerstand überbrücken und auf ihre Weise den Raum neu beleben.
Annenstraße: Einst großer Prunk, heute Hoffen auf neuen Schwung
Aber wieso gibt es ausgerechnet in der Murvorstadt so viel Leerstand, wo doch die Nachfrage durch den verstärkten Zuzug von Student_innen und jungen Familien in den letzten Jahren so deutlich gestiegen ist? „Das hängt zum einen mit den teilweise extrem schlechten Zuständen der Gebäude zusammen. Die Eigentümer_innen unternehmen entweder gar nichts oder verkaufen ihre Grundstücke eher, als dass saniert wird. Achtzig Prozent der von uns im Lendlabor erfassten Gebäude wurden innerhalb weniger Jahre abgerissen“, sagt Resch. „Damit entstanden noch mehr Lücken im Stadtbild und somit Nährboden für Spekulant_innen“, so die Architektin weiter.
Einen weiteren Grund für diese Entwicklung sieht sie in dem schleichenden Bedeutungsverlust der Annenstraße als die prunkvolle Einkaufsstraße, die sie noch bis in die 80er Jahre für Graz war. Das Gewerbe hat sich seitdem an die Peripherie verlagert, wo nach und nach große Shopping-Center errichtet wurden. Der Einzelhandel in der einst so geschäftigen Flaniermeile blutete zunehmend aus. Auch der kostspielige Umbau, der im Jahr 2013 abgeschlossen wurde, konnte bislang noch nicht den erhofften Schwung aus früheren Zeiten in die Straße zurückbringen. Das liegt zum einen am parallel umgestalteten Hauptbahnhof mit der ebenfalls neu gebauten Unterführung, die Reisende nun auf direktem Wege zu den Straßenbahnlinien führt. Darunter leidet besonders das Einkaufszentrum „Annenpassage“, das in den letzten Jahren und spätestens seit dem Weggang von Kundenmagneten wie Saturn und Spar zu einer Art unterirdischen Geisterstadt verkommen ist. Außerdem ist es der Stadt trotz des aufwändigen Umbaus nicht gelungen, neue Einzelhändler langfristig in die Annenstraße zu locken, was einem Dilemma gleichkommt. Viele von den ehemals florierenden Geschäften bleiben dauerhaft leer, was auch an den überteuerten Mieten liegt, die seit dem fertiggestellten Umbau in der Annenstraße verlangt werden.
Schon immer ein gespaltenes Verhältnis zwischen Ost und West
Diese Beobachtungen aus der heutigen Zeit und ein kleiner Blick in die Vergangenheit legen zusätzlich den Verdacht nahe, dass die Stadt unter Umständen schon immer ein Interesse daran gehabt haben könnte, sich selbst in zwei Hälften aufzuteilen. Die Spaltung nahm bereits ihren Anfang zur Zeit der Stadtgründung im 13. Jahrhundert, als Klöster, Adelige und Kirchen die Grundherrschaft der noch dünn besiedelten Bereiche in den Vorstädten am linken, östlichen Murufer für sich beanspruchten. Auf dem rechten, westlichen Murufer hingegen siedelten sich rund um den Mühlgang schon früh Mühlen, Hammerwerke und erste industrielle Betriebe an. Aufgrund der ausgesprochen geringen Mieten und Abgaben zog es in der Folge vermehrt Menschen aus der Arbeiterklasse, und auch Student_innen und Künstler_innen hierher. 1892 wird die funktionelle Trennung zwischen den beiden Stadthälften sogar teilweise in der Stadtplanung festgeschrieben.
Und heute? Die Student_innen, Künstler_innen und vielen Gasthäuser und Kneipen sind geblieben, Veranstaltungsorte, wie das Orpheum oder das PPC, sind hinzugekommen. Durch den Zuzug von Menschen aus anderen Stadtvierteln, Städten und Ländern sind neue, vielfältige Nachbarschaften entstanden. Heute ist Lend mit etwa 30.000 Einwohnern und einem Zuwachs von 500-600 Bewohner_innen pro Jahr der zweitgrößte Bezirk der Innenstadt. Man könnte sogar sagen, dass die Murvorstadt aufblüht wie niemals zuvor, wenn sie der alte, lästige Ruf einer längst vergangenen Zeit nur nicht immer wieder einholen würde.
Wenn ein Klischee zur selbsterfüllenden Prophezeiung wird
Um mit den alten Vorurteilen aufzuräumen und darüber hinaus einen Ort der Begegnung zwischen seinen verschiedenen Bewohner_innen und Kulturen zu schaffen, veranstaltet der Bezirk mit den angrenzenden Vierteln seit 2007 jedes Jahr für eine Woche im Mai den Lendwirbel. Ein schillerndes Nachbarschaftsfest, das auch dieses Jahr wieder zahlreiche Besucher_innen mit einem bunten Angebot aus Workshops, Kulinarik, Musik, und gesellschaftlichem Dialog angelockt hat.
Wie auch die Diskussionsrunde, zu der die Annenpost bei strahlendem Sonnenschein auf den Mariahilferplatz eingeladen hat. Die Annenpost ist ein Projekt von Journalismus-Studierenden der FH Joanneum, das sowohl in einer gedruckten Ausgabe als auch im Netz regelmäßig über Neuigkeiten aus dem Annenviertel berichtet. Ihr Format „Annentalk“ bietet Anwohner_innen und Interessierten eine Plattform. Das Motto des Bürgerdialogs auf dem Lendwirbel: „Ghetto 8020. Das Image vom Lend“. Hier wurde auch Lend-Bezirksvorsteher Wolfgang Krainer (ÖVP) interviewt. Er machte unter anderem auch die Medien dafür verantwortlich, dass die Erzählung von der guten und bösen Seite der Mur immer wieder aufgewärmt wird: „Der Volksgarten wird in der Berichterstattung nur immer mit Ausländern, Kriminalität und Drogen in Verbindung gebracht. Es liegt auch an den Redakteur_innen über die sichtbar positiven Entwicklungen unseres Stadtteils zu berichten“, so Krainer.
Außerdem meldete sich noch eine junge Frau zu Wort, die davon erzählte, dass ihr die Sichtweise von der guten und bösen Seite der Mur noch gar nicht bewusst gewesen sei, bevor es sie vor einigen Jahren in die Murvorstadt verschlug. Hier hätten ihr dann die Nachbar_innen mit einem Augenzwinkern mitgeteilt: „Du wohnst jetzt übrigens auf der bösen Seite der Mur.“ Ihrer Meinung nach sind nicht immer nur die von der anderen Seite Schuld, dass diese Sichtweise nach wie vor präsent ist. Auch dadurch, dass der angebliche Unterschied zwischen den beiden Seiten der Mur immer wieder ein Thema ist, wird ein Klischee am Leben erhalten und auf diese Weise irgendwann zur selbsterfüllenden Prophezeiung. So gesehen ist auch der Autor dieses Artikels, wie schon so viele vor ihm, ein weiteres Mal in eine jahrhundertealte Falle getappt.
Autor: Julius Reuter
Bildrechte: Maria Reiner | Verein Stadtteilprojekt ANNENViERTEL