Auf der Homepage der Karl-Franzens-Universität heißt es: „Mit 32.500 Studierenden und 4.300 MitarbeiterInnen trägt sie [die KFU] entscheidend zum pulsierenden Leben der steirischen Landeshauptstadt bei.“ Schön und gut, aber warum fühlt sich dann Graz in den Sommermonaten wie halbvoll an?
Wahrscheinlich weil ein Großteil der Studierenden hauptsächlich in Graz lebt, um zu studieren, und die Ferien dann doch in der Heimat verbringt. Zurück bleiben nur „die Stadtkinder“ oder „die echten Grazer_innen“. Was überhaupt „echte Grazer_innen“ ausmacht und was das Leben in Graz so mit sich bringt, beschäftigt mich, ein Landkind, schon länger.
Standard vs. Stil
Zugegeben, wenn man als Landkind in die große Stadt Graz zieht, packt man bewusst oder unbewusst einige Vorurteile gegenüber in Städten lebenden Menschen in seinen Koffer. Sie seien unfreundlich, oberflächlich, arrogant und immer übertrieben bemüht Standardsprache zu sprechen, wobei sie natürlich das „St“ in „Standard“ wie im Wort „Stil“ aussprechen. Jahre der ausgiebigen Feldforschung ergaben jedoch: Fehlanzeige. Ich kann leider nicht verkünden, dass sich
Menschen, welche in der Stadt aufwuchsen, übermäßig von am Land Herangewachsenen unterscheiden. Es gibt überall freundliche, aber auch unfreundliche. Hilfsbereite, Besserwisser, Intelligente oder Idioten kann man überall antreffen. Und ehrlich gesagt, treffe ich eher beim ländlichen Heimaturlaub auf Armutszeugnisse im Bereich der zwischenmenschlichen Interaktion. Das muss man sich als Landkind (leider) eingestehen. „Stoasteirische“ Ausflüchte ändern daran auch nichts.
Vom Erwachsenwerden
Wenn man sich mit Freunden über das Leben in Graz unterhält, gelangt man immer wieder zur selben, eigentlich trivial wirkenden Erkenntnis. Für die meisten von uns ist Graz die Stadt, in der wir die ersten Schritte der Selbstständigkeit und des (angeblichen) Erwachsenseins machen. Angefangen mit dem Ausziehen bei den Eltern und der ersten eigenen Wohnung. Für manche ein beunruhigender Sprung in einen ungewissen nächsten Lebensabschnitt. Für andere das letzte post-pubertäre Aufbäumen gegen die elterliche Autorität und der langersehnte Befreiungsschlag zum Einläuten der Unabhängigkeit. Es folgt für viele die erste Liebe, die über „Willst du mit mir gehen?“ und „Hey, meine Eltern
sind am Wochenende nicht zuhause!“ hinausgeht. Die meisten müssen dann auch die erste Trennung verkraften, welche einen für einige Zeit ziemlich aus der Bahn werfen kann. Manche machen auch Erfahrungen mit Substanzen, die man vielleicht später gegenüber dem eigenen Nachwuchs mit „Haben wir auch probiert, aber da waren wir noch jung und dumm. Ihr seid da schon viel klüger als wir,“ kommentiert. So mancher wird auch erstmals mit den hässlicheren Seiten des Lebens konfrontiert werden: Geldsorgen, Existenzängste, schwere Schicksalsschläge. Alles erlebt. Hier in Graz.
Klein anfangen
Interessant wird es, wenn man auf Menschen aus anderen Städten, besonders Menschen aus Wien, trifft. Oft kommt es im Laufe des folgenden Gesprächs immer zur selben Frage: „Warum zieht man denn bitte in die zweitgrößte Stadt Österreichs, wenn man doch auch nach Wien gehen kann?“ Berechtigte Frage. Sollte man auch gar nicht abstreiten. Jedoch treffen spontane Argumentationen und Erklärungsversuche meist auf taube Ohren und werden lediglich mit leichtem Stirnrunzeln, Kopfschütteln und Schmunzeln kommentiert. Nicht, dass an dieser Stelle Wien oder die Wiener_innen in irgendeiner Art und Weise schlecht geredet werden sollen. Nicht, dass Wien keine schöne Stadt wäre, aber für viele, wie zum Beispiel aus einem Zweitausend-Einwohner-Ort stammende Landeier, reicht Graz vollkommen aus, um einen einer mittelschweren Katastrophe gleichkommenden Kulturschock zu verursachen. Was viele an Wien etwas abschreckt, ist die schiere Größe. Und vielleicht wäre auch tatsächlich das Angebot an Kaffeehäusern, Restaurants, Veranstaltungen, Konzerten und Einrichtungen für verschiedenste Freizeitbeschäftigungen schlicht überfordernd. Graz hingegen ist überschaubar, aber nicht einengend. Aber auch groß genug, um die Möglichkeit zu haben, nicht ständig die gleichen Gesichter auf der Straße zu sehen und sich auch, wenn nötig, aus dem Weg zu gehen. Generell ist alles leicht und relativ schnell zu erreichen, egal ob zu Fuß oder mit dem Fahrrad. Es gibt Sushi-Restaurants, Lokale in denen Enchiladas serviert werden, gute Kaffeehäuser und der nächste Dönerladen ist nie weiter als zwei Minuten Fußweg entfernt. Auch nach Jahren passiert es noch, dass man von Freund_innen in irgendeine Lokalität geschleift wird, von der man noch nie gehört hatte. Und alle paar Monate macht die Tournee einer großen Musikproduktion in der Stadthalle oder am Messe-Gelände halt, während fast im Wochentakt Bands die kleineren Konzerthallen füllen. Wobei die umtriebige Grazer Musikszene rund um Guest Room, SUB und Wakuum auch noch zu erwähnen ist.
Der Makel
Nach all dem Lob für Graz und seine Bewohner_innen kommt man aber nicht darum herum auch eine der dunkleren Seiten zu beleuchten. Und nein, die Rede ist dabei nicht von 8020 und dem Mythos der angeblich dunklen Seite der Mur. Vielmehr geht es dabei um eine negative Eigenschaft, die man uns Grazer_innen mit Sicherheit in die Schuhe schieben kann. Wenn es jährlich wieder Zeit für Veranstaltungen à la Grieskram, Lendwirbel oder Augartenfest wird, verhalten sich viele plötzlich fast schon übertrieben alternativ, weltoffen und besonders motiviert sich irgendwo etwas Neues anzusehen und auszuprobieren. Erst vor einiger Zeit konnte man es wieder beim Lendwirbel beobachten. Für eine Woche verlagerten die meisten ihr Wohnzimmer ins Lendviertel und waren nachmittags und abends fast nirgendwo sonst anzutreffen. Vom Südtiroler- bis Lendplatz großer Menschenandrang, mittendrin Straßenmusiker_innen und Künst
ler_innen an jeder Ecke. Die Woche danach: Einkehr der Normalität und alle gehen wieder dahin, wo sie angeblich hingehören. Viele schwärmten noch davon, wie toll es doch war. Warum man sich nicht einfach öfter diese Freiräume innerhalb der Stadt nimmt, um dieses doch so tolle städtische Lebensgefühl aufrecht zu erhalten, ist ein Rätsel. Vielleicht aus Faulheit, oder auch wegen Gedanken wie „Wenn es keine Facebook-Veranstaltung gibt, gibt es keine Veranstaltung“. Lichtblicke gibt es jedoch. Einen für jeden, der sich auch ohne groß beworbenes Event mit guten oder weniger guten Freunden und Bekannten im Augarten oder Stadtpark herumtreibt.
Was tatsächlich das urbane Leben in Graz ausmacht, fällt schwer zu beschreiben. Denn Graz ist zwar das Augartenfest, Lendwirbel und Grieskram, aber auch das Sommerloch an Veranstaltungen im August. Nicht nur Schlossberg, Hauptplatz und Stadtpark, sondern auch Andritz und Puntigam. Worüber ich mir aber sicher bin, ist, dass Graz für die meisten von uns irgendwie immer wichtig sein wird. Egal wohin es uns verschlagen sollte.
Autor: Frederick Reinprecht
Bildrecht: Nicole Hofstetter