Kurzgeschichten

Kurzgeschichte: Großes Tennis im Ruhebereich

Eine Geschichte von Julius Reuter über sperriges Gepäck, Rühestörungen und die menschliche Diskussionsbereitschaft.

Im Ruhebereich des ICE werden die Leute auch immer rücksichtsloser. Und neuerdings verselbstständigt sich auch noch ihr Gepäck zu einer Gefahr für Leib und Leben. Und wenn zur Zielscheibe nicht der eigene Kopf wird, den man im Anflug der mobilen Mittelstreckenrakete in Form des gewichtigen Kofferwagens der 84-jährigen Sitznachbarin gerade noch rechtzeitig einziehen konnte, trifft es halt das Retina-Display des nagelneuen Laptops der nichts ahnenden Anfang 20-jährigen Studentin von Gegenüber. Auf der Kurzstrecke von Hamburg nach Hannover wollte sie doch nur kurz ihre Hausarbeit fertig schreiben, als die Mittelstreckenrakete mit voller Wucht einschlug, und im Bruchteil einer Nanosekunde ihre tollkühnen Abgabepläne für die selbe Nacht über Bord warf.

Ein persönliches Desaster für die junge Frau, an dem ich zugegebenermaßen nicht ganz unschuldig war. War ich doch der nette, hilfsbereite Mitfahrer von nebenan, der der älteren Dame einige Minuten zuvor angeboten hatte, ihr schweres als Koffer getarntes Kriegsgerät auf die wahrscheinlich nicht für solch einen 2-Tonner vorgesehene Gepäckablage zu hieven. Eine waghalsige Aktion, die zwar an räumlichem Vorstellungsvermögen und weitsichtigem Katastrophenmanagement vermissen ließ, aber zumindest dem dankbaren Anfang 60-jährigen Gynäkologen aus München in dem ansonsten proppenvollen ICE einen Sitzplatz bescherte. Der zückte bei der Fahrkartenkontrolle dann auch gleich seine Respekt einflößende „Black Mamba“, wie die BahnCard100, einer Art Diplomatenpass auf Schienen, unter langjährigen Vielfahrern ehrfürchtig genannt wird.

Kofferverräumdienstleistungen junger Semesterrückkehrer für die wohlwollende Anerkennung gestandener Bahnmobilisten: Das ist der Generationenvertrag der Gleise, den man mit dem Kauf eines Bahntickets, auch ganz ohne kleingedruckten Firlefanz, ob man will oder nicht, vor jeder Fahrt aufs Neue eingeht. Im Abteilwagen der Deutschen Bahn verschmelzen auf diese Weise sechs wildfremde Seelen und ein Wurfgeschoss mit NA(h)TO(d)-Qualitäten zu einer Schicksalsgemeinschaft. Das gilt nicht nur für die gemeinsame Aufarbeitung und Klärung des Schadenfalls, sondern auch, wenn das Eis schließlich einmal gebrochen ist, für die anschließenden Gespräche auf solch einer abenteuerlichen wie aberwitzigen Bahnfahrt.

„Hach, die armen Bauern! Ein heißer Sommer ist ja schön und gut, aber auf Dauer ist das doch ein Problem“, seufzt die 84-Jährige Sitznachbarin beim Anblick der ausgedörrten Felder links und rechts der Bahnstrecke. „Und mal ganz ehrlich, da ist ja nur der Anfang. Das war doch früher nicht so. Das Klima, die Politik, so vieles geht momentan den Bach runter“, fährt sie fort. Ich nicke verständnisvoll mit dem Kopf, aber versuche dem Gespräch zugleich eine neue, positivere Wendung zu geben: „Die Atomkraftwerke werden nach und nach vom Netz genommen. Das war doch vor 20 Jahren noch undenkbar! Klar, man muss die Klimaziele auch umsetzen, aber hey, jede Zeit hat ihre Herausforderungen“, sage ich und will die ernsthaft besorgte Dame damit aufmuntern und dazu bewegen, nicht alles schwärzer zu sehen als es ist.
Und wieder bin ich der Trottel, der mit naiv-unachtsamen Vorangehen ungewollt eine Lawine in Gang setzt. „Das ist doch alles ein großer Widerspruch. Einerseits laufen hier im ICE die Klimaanlagen den ganzen Tag auf Hochtouren, andererseits soll der deutsche Autofahrer jetzt auf seinen Diesel verzichten“, redet sich jetzt der Münchener Chefarzt in Rage, der entweder eine große Langeweile verspürt oder schon lange mal in der Öffentlichkeit, die da nicht sein Krankenhaus ist, etwas ganz Grundsätzliches klarstellen wollte. „Und angenommen … “, ignoriert er die kurze Atempause zur Möglichkeit der Gegenrede seines Gegenübers, „ … ich würde jetzt zu Hause auf Solarstrom umsteigen. Da ist der ganze bürokratische und finanzielle Aufwand doch viel größer als der Mehrwert, den ich als Verbraucher davon auch nur irgendwann einmal hätte. Der Staat und die EU wollen alles tot regulieren, den Leuten vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben. Aber so geht’s nicht!“

Wumms, das hat gesessen. Prompt holt die 84-Jährige Dame zum Gegenangriff aus: „Aber irgendwann muss man doch einmal damit anfangen, Verantwortung zu übernehmen. Immer nur durchzurechnen, was man selbst am Ende davon hat, bringt doch auch nichts. Immer nur Ich, Ich, Ich … so geht’s doch auch nicht weiter!“ Punktgewinn für die Generation Kukident, aber der Konter der Generation Weißhaariger-privilegierter-Mann-im-besten-Alter lässt nicht lange auf sich warten. „Sie haben doch keine Ahnung“, schnauzt er die ältere Dame mit dem Kofferwagen jetzt unvermittelt an. „Sie sind wahrscheinlich auch eine dieser Wir-schaffen-das-Freunde. Offene Grenzen und so viele Flüchtlinge ins Land holen wie möglich. Sie müssen doch sehen, in welches Verderben diese linksgrüne Merkel-Politik uns gerade führt.“ Bumm. Damit liefert er den endgültigen Startschuss für eine hitzige, den Grundton der Sachlichkeit und des gegenseitigen Respekts außer Acht lassenden „Diskussion“, die allmählich einem hart umkämpften Tennis-Match zweier alter Rivalen auf dem Centre-Court gleicht. Links, rechts, Haudrauf. Die übrigen Fahrgäste verstummen währenddessen zu regungslosen Statisten dieses Nahkampfes, in dessen weiteren Verlauf sie entweder verstört ins Bordbistro flüchten, entnervt den Sitzplatz wechseln oder erleichtert aussteigen. Darunter auch die Studentin mit dem kaputten Laptop, die in Hannover die Flucht ergreift und vorher noch vom gütigen Chefarzt seine Visitenkarte zugesteckt bekommt, „falls es da Probleme mit der Versicherung der Verursacherin geben sollte“.

Was der schweigenden Mehrheit in den restlichen vier Stunden bis München erspart bleibt: Der Münchener Chefarzt schlägt einen weiten Bogen zu seiner beruflichen Laufbahn. Wie er vor einigen Jahren nach Syrien eingeladen wurde, um die Frau des Premierministers, dem zweiten Mann im Staate hinter Diktator Assad, zu operieren. Das sei noch vor dem Syrienkrieg gewesen. Ein stabiles Land hätte er dort damals vorgefunden. „Wenn der Westen nur nicht dem Irrtum aufgesessen wäre, seine Ideen von Rechtsstaat und Demokratie in der Welt zu verbreiten, dann sähe dort heute vieles besser aus, und wir hätten auch nicht die vielen Flüchtlinge zu beklagen.“ Als der Chefarzt mit seinen Potemkinschen Dörfern endlich fertig ist und kurz auf die Toilette verschwindet, beginne ich ernsthaft darüber nachzudenken, mit der 84-Jährigen Dame einen Geheimpakt zu schmieden. „Ätzend, dieser Herr. Breitet sich hier aus und erzählt von seinen wichtigen Geschäftsreisen. Auch wenn es noch so vielen Menschen auf der Welt schlecht geht, Hauptsache dem geht’s gut“, konstatiert die ältere Dame ernüchtert.

Der Unruhestifter kommt zurück. Schmatzend mit einem Wurstbrot in der Hand, und dem Handy am Ohr, kündigt er seine baldige Ankunft in München an. Dann will er gleich wieder dort anknüpfen, wo er gerade aufgehört hat. Nächster Tagesordnungspunkt: Somalia. Noch bevor er jedoch so richtig Fahrt aufnehmen kann, schlage ich den finalen Matchball auf. „Entschuldigen Sie bitte, aber ich würde dann jetzt ganz gerne etwas die Augen zu machen“, unterbreche ich den Chefarzt unter dem Hinweis des geltenden Ruhebereichs freundlich aber bestimmt. Der Gynäkologe verschluckt sich fast am Wurstbrot, schaut mich mit weit aufgerissen Augen an, aber legt schließlich friedlich und ohne großes Gezeter seine Waffen nieder. Die Mittelstreckenrakete meiner 84-jährigen Sitznachbarin hat inzwischen auch ihren sicheren Sitzplatz zurückerhalten.
Ich zwinkere der Dame noch kurz zu, bevor ich dann in die traumwandlerische Simulation eines schier endlosen Tiefschlafes verfalle. Egal, was das jetzt über mich und meine Generation aussagt, denke ich mir. Aber im Ruhebereich des ICE werden die Leute doch immer rücksichtsloser.

Autor: Julius Reuter

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