Julius Reuter über Graz, Grunge und historisch belastete Straßennamen.
Kurz bevor Nirvana in den 90er Jahren die weltweiten Charts stürmten, spielten die noch unbekannten Grunge-Musiker aus Seattle in einem kleinen Grazer Club groß auf. Das fast vergessene Konzert von Kurt Cobain und seiner Band jährt sich im November zum 30. Mal. In einer für ihren Namensgebers berühmt-berüchtigten Gasse lebt der Name des toten Musikers aber bis heute weiter.
Ein amerikanischer Rockstar trifft auf einen österreichischen NS-Dichter. Wie bitte? Ja, so etwas gibt es. Und zwar ganz in deiner Nähe. Aber der Reihe nach.
Der eine von ihnen, der eigentlich Priester und Chorherr war, stieg zu Zeiten der K.K.-Monarchie mit gefühligen Oden an seine steirische Heimat ebenso wie mit blutrünstigen Gedichten gegen die slawische Minderheit im Land zu einer Art Nationalhelden auf. Auch die Tatsache, dass er später das Hakenkreuzlied für die Fürstenfelder Ortsgruppe der Deutschen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei (DNSAP) schrieb, änderte an seinem Status mancherorts, so auch in Graz, bis heute wenig.
Der andere, der nach eigener Aussage eigentlich nichts auf der Welt mehr liebte als pure Underground Musik, stieg in den 90er Jahren mit dem schrammeligen wie revolutionären Grunge seiner Band Nirvana zu Weltruhm auf. Als ob ihn die Musik alleine im Diesseits nicht schon unsterblich gemacht hätte, erlangte er jenen Status spätestens dann, als er im Alter von 27 Jahren seinem Leben vorzeitig selbst ein Ende bereitete, nicht ohne der Welt noch einen bittersüßen Abschiedsbrief zu hinterlassen.
Kurt Cobain, der tragische Antiheld und die gefeierte Symbolfigur der Generation Weltschmerz. Ottokar Kernstock, der von seinen erzkonservativen bis rechtsnationalen Anhängern zum harmlosen Heimatdichter romantisierte Pfarrer mit fragwürdiger Gesinnung. Es sind Welten, die diese beiden Herren voneinander trennen. Und doch verbindet sie heute mehr, als ihnen wohl selbst lieb wäre.
Seit geraumer Zeit teilen sich diese beiden Herrschaften nämlich die selbe Gasse in Graz. Sie selbst leben da nicht etwa Tür an Tür in freundschaftlicher Nachbarschaft nebeneinander. Denn beide, und das ist ihre zweite Gemeinsamkeit, gehören zu den sogenannten historischen Persönlichkeiten, die längst unter der Erde begraben liegen – und somit alle notwendigen Voraussetzungen dafür erfüllen, dass eine Straße nach ihnen benannt wird.
Ottokar Kernstock wurde diese Ehre schon vor einer halben Ewigkeit zu Teil. Nach seinem Tod im Jahr 1928 wurde eben jene Gasse im 5. Bezirk Gries nach ihm benannt, an der sich seit einigen Jahren die Grazer Gemüter entzweien.
Man kann ja fast den Eindruck gewinnen, dass die Regierung überhaupt nichts am Status Quo ändern will.
Die Kernstockgasse ist nicht der einzige Ort in Graz, der mit dem umstrittenen Erbe seines Namensgebers zu kämpfen hat. Die Grazer Stadtregierung hat daher im Jahr 2014 eine HistorikerInnen-Kommission ins Leben gerufen, um die Namen aller Straßen und Plätze in der Stadt auf ihre geschichtliche Bedeutung überprüfen zu lassen. Mit dem Ergebnis, dass etwa 82 Straßennamen als problematisch eingestuft wurden, wovon 62 als belastet und 20 sogar als schwer belastet gelten. Neben der Kernstockgasse befindet sich darunter beispielsweise auch die Conrad-von-Hötzendorf-Straße, die nach dem Chef des Generalstabs von Österreich-Ungarn benannt ist. Aus historischer Sicht ist man sich heute einig, dass die kriegstreiberische Politik Hötzendorfs in der sogenannten Julikrise im Jahr 1914 maßgeblich zum Ausbruch des 1. Weltkrieges beigetragen hat.
Der Stadt Graz und seinen BewohnerInnen drängt sich also einmal mehr die Frage auf, was der richtige Umgang mit ihrer eigenen Geschichte ist. Sind Umbenennungen der belasteten Straßennamen der geeignete Weg, wie es hauptsächlich KPÖ und Grüne fordern? Reichen Erklärungstafeln aus, wie sie etwa Bürgermeister Siegfried Nagel (ÖVP) einführen will? Oder sind gar Pflasterungen am Anfang und Ende jeder Straße sinnvoll, damit die BewohnerInnen im wahrsten Sinne des Wortes „ein wenig aufgerüttelt werden“, wie es die Grazer SPÖ kürzlich vorgeschlagen hat?

Oder sollte man es einfach gleich selbst in die Hand nehmen? So wie es eine kleine Gruppe von Aktivisten im April 2014 tat, als sie die altehrwürdige Kernstockgasse an einem Tag kurzerhand in die Kurt-Cobain-Gasse verwandelten.
Das eigens für diese Aktion gegründete „Komitee zum Gedenken an Kurt Cobain“ erinnerte sich an einen sagenumwobenen Konzertabend im November 1989 zurück, als ein blutjunger Sänger und Gitarrist aus Seattle mit seiner damals noch unbekannten Band das Café Pi gegenüber in der Dreihackengasse aufmischte.
„Wir waren damals Teil einer Underground-Szene in Graz, die total auf diese eigenartige neue Musik abfuhr“, erinnert sich Stefan Auer, der damalige Organisator des Konzerts. „Wir wollten die Bands vom amerikanischen Subpop-Label unbedingt mal live sehen – also nahmen wir Kontakt zu einer Agentur auf, die diese Bands nach Europa brachte“, so Auer weiter, der als Student im Kulturreferat der TU Graz engagiert war und später seine eigene Konzertagentur „Zeiger“ gründete.
Die aus heutiger Sicht für schier unmöglich gehaltene Zusage für das Konzert erfolgte auch deshalb, weil Nirvana zusammen mit ihrer Begleitband TAD gerade in einem Fiat-Kleinbus auf ihrer ersten Tournee durch Europa unterwegs waren und noch nach Clubs suchten, in denen sie der Welt zeigen konnten, was sie drauf hatten. Vom ausschweifendem Rock ’n’ Roll-Lifestyle noch keine Spur, wenn da nicht die vom Vorabend zertrümmerte Gitarre von Cobain gewesen wäre, die er kurz vor dem Konzert noch zusammenflicken musste, um vor rund hundert Grazer Grunge-Fans einigermaßen auftrittsfähig zu sein.
„Kurt Cobain begegnete mir als freundlicher junger Mann, der für alles Bitte und Danke sagte“, erinnert sich Auer, der vor dem Konzert noch schnell in ein Grazer Musikhaus fuhr, um dem späteren Weltstar mit einem Satz neuer Gitarrensaiten auszuhelfen. Cobain revanchierte sich dafür bei Auer nach dem Gig mit einem der ersten Nirvana-T-Shirts, die sich zwei Jahre später nach der ersten Erfolgs-Single der Band „Smells Like Teen Spirit“ noch eine ganze Generation pubertierender Teenager kollektiv überstreifen sollte.
25 Jahre später nahm das Komitee den 20. Todestag von Cobain zum Anlass, um dem Rockstar ein spätes Denkmal in Graz zu errichten. Dafür ließen sie extra authentische Straßenschilder anfertigen, die schließlich mit anderen Nirvana-Fans und Befürwortern einer Umbenennung in einem öffentlichen Gelöbnis feierlich dort aufgehängt wurden, wo vorher fast ein ganzes Jahrhundert der Name Kernstock zu lesen war. Eine Gedenktafel zu Ehren des Nirvana-Frontmannes wurde ebenso befestigt, inklusive der berühmten letzten Worte aus seinem Abschiedsbrief: „It’s better to burn out than to fade away“.
Das Neil Young Zitat, dem der tragische Entschluss zum Selbstmord eines großen Musikers vorausging, lässt sich im Nachhinein genauso gut als implizite Handlungsaufforderung des Komitees an eine untätige Stadtregierung verstehen.
„Man kann ja fast den Eindruck gewinnen, dass die Regierung überhaupt nichts am Status Quo ändern will. Das ist ein politisches Nicht-Wollen“, zeigt sich der Historiker Dr. Heimo Halbrainer enttäuscht über den langwierigen Aufarbeitungsprozess. „In mühevoller Kleinarbeit mussten alle Straßennamen und Plätze einzeln überprüft werden, anstatt von Vornherein den Fokus auf die kritischen Straßennamen zu legen“, so Halbrainer, der der Expertenkommission als Repräsentant der jüdischen Gemeinde selbst angehörte. Seiner Meinung nach wollte die Stadt mit dieser Maßnahme lediglich Zeit gewinnen, um ein als lästig empfundenes Thema endlich vom Tisch zu haben.
Die türkis-blaue Koalition vertritt etwa die Position, dass flächendeckende Umbenennungen der Straßennamen zu hohe Kosten für alle Beteiligten verursachen würde. Ansässige Unternehmen müssten ihre Briefköpfe ändern, Anwohner eine andere Postadresse annehmen, und neue Personalausweise beantragen, von den Materialkosten der neu zu montierenden Schildern ganz zu schweigen.
Halbrainer selbst spricht sich, wie auch im Fall der Kernstockgasse, deutlich für Umbenennungen der belasteten Straßen und Plätze in Graz aus. In seiner Tätigkeit für den von ihm mitbegründeten Grazer Verein für Erinnerungsarbeit CLIO hat er unter anderem zur Geschichte der WiderstandskämpferInnen gegen das NS-Regime in der Steiermark geforscht. Der Historiker schlägt deshalb vor, besonders die Namen dieser Persönlichkeiten bei möglichen Umbenennungen zu berücksichtigen. Dazu gehört auch Maria Cäsar, die bekannte Widerstandskämpferin und KPÖ-Aktivistin. Die langjährige Vorsitzende des steirischen KZ-Verbandes verstarb 2017 im Alter von 96 Jahren. Mit ihrem Tod verlor die Stadt Graz ihre letzte öffentlich auftretende Zeitzeugin.
Im Zuge der Diskussion um die Umbenennung belasteter Straßennamen wäre Maria Cäsars Name eine gute Wahl, wie viele GrazerInnen finden. „Stattdessen will die Stadt jetzt eine Hundekackwiese am Stadtrand nach ihr bennenen“, konstatiert der Historiker Halbrainer.
Und was ist mit der Kurt-Cobain-Gasse? „Eine coole Idee“, findet Stefan Auer, der mit dem Nirvana-Konzert vor 30 Jahren gewissermaßen selbst den Grundstein dafür gelegt hat.
„Erklärungstafeln, was soll denn das bringen? Damit die Leute auch ganz genau wissen, dass die Straße, in der sie leben, nach einem Nazi benannt ist und die Politik nichts dagegen unternimmt?“, fragt Auer. „Was die Kernstockgasse angeht, wäre natürlich der Name Kurt Cobain am besten“, fügt er lächelnd hinzu.“
Der junge Mann aus Seattle mit den blonden langen Haaren und dem Holzfällerhemd hätte es sich damals auf den Brettern des ehemaligen Café Pi wohl selbst nicht erträumen lassen, dass die eine Nacht, die er hier verbringen sollte, einmal solche Spuren in dieser Stadt mit dem für ihn unaussprechlichen Namen nach sich ziehen würde.
Die Spuren des „Komitees zum Gedenken an Kurt Cobain“ waren ein paar Tage nach der Umbennennungsaktion wie weggewischt und die alten Schilder wieder aufgehängt. Alles wieder beim Alten könnte man meinen. Wenn der Online-Kartendienst Google Maps die Straße nicht bis heute als Kurt-Cobain-Gasse in seinem System vermerkt hätte. Google doch mal.
Autor: Julius Reuter
Bildrechte: Julius Reuter, Komitee